Gretel Raab

Erinnerungen eines Mädchens aus Bessarabien

Meine Schwester Mathilde wurde nur 10 Jahre alt

Tante Mathilde, Papas Schwester, war ihre Patentante. War verheiratet mit Andreas Gwinner und hatte keine Kinder. So kam die 8-jährige Mathilde zur Patentante. Mama hat sicher nicht leicht eingewilligt, aber Vater war krank und es waren inzwischen sechs Kinder, das siebente (Maria) ist gleich bei der Geburt gestorben.

Ich kann mich an Tante und Mathilde gut erinnern, immer wenn ich meine Schwester besuchen wollte wurde ich fortgeschickt, denn Mathilde mußte schon als kleines Mädchen ganz bestimmte Arbeiten verrichten.

Dann kam der Tag, Mathilde war etwa 10 Jahre, es war im Sommer 1935. Am frühen Morgen steht Onkel Andreas vor unserer Tür und weint. Er erzählt Mama etwas, aber wir konnten nicht verstehen was geschehen ist, und es mußte etwas furchtbares geschehen sein, denn Mama hat geweint und laut geschrien ("Du Schwein, was hast Du mit meinem Kind gemacht. Oh Gott, hätte ich es Euch doch nicht gegeben.")

Mama lief so schnell sie konnte zu ihrem Kind. Erna war knapp 2 Jahre, wir wollten mit, aber Mama hatte Sorgen und Angst um ihr Kind und lief. Wir sind hinterher. Erna konnte nicht schnell laufen, ich hab sie immer ein Stück getragen, aber sie war mir zu schwer und so kamen wir im Dorf an als Mathilde schon tot war.

Viele Leute liefen rum, weinten und schrien durcheinander, denn Onkel war an allem schuld! Er hat das Kind vor Tagesanbruch geweckt, es mußte mit aufs Feld, denn die Ernte begann. Mathilde hätte neben ihm auf dem Pferdewagen gesessen, muß wohl eingeschlafen sein und plötzlich vom Wagen gefallen. Der Wagen hat sie überfahren, ehe er die Pferde zum Halten brachte.

In der Morgendämmerung bringt er das schwerverletzte Mädchen zurück! Tante Mathilde liegt neben dem Kind auf dem Boden wie Mama. Beide Frauen haben jahrelang darunter gelitten. Mama, weil sie ihr Kind weggegeben hat und Mathilde, weil sie nicht besser aufgepasst hat.

Seit damals habe ich Onkel A. gehasst und wahnsinnige Angst vor ihm gehabt.
© 2006 Stefan Germer