Gretel Raab

Erinnerungen eines Mädchens aus Bessarabien

Meine Schwester "Irma"

heute 72 Jahre alt (1994)

Irma war so schön. Meine ganze Kindheit hatte ich nur einen Wunsch: so schön wie Irma zu sein. Aber daraus wurde nichts, auch Irmas Schönheit ist verblasst.

Als 13jähriges Mädchen mußte auch sie zu fremden Menschen und dort arbeiten, denn es war so: sobald die Kinder im letzten Schuljahr waren, konnten und wollten sie etwas Geld verdienen. Irma war bei reichen Bauern in Albota. Ein Nachbardorf, etwa 4 km entfernt.

Als Erna 5 Jahre alt war, sind wir zum ersten Mal mit Mama zu Irma gelaufen. Das war 1939. Stundenlang waren wir unterwegs, denn damals gab es noch keine Zug- oder Busverbindung. Wir hatten keine Pferde, sonst wäre Mama sicher mit dem Wagen gefahren.

Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Es war ein Sonntag und große Sommerhitze. Als wir da ankamen waren wir durstig und hatten klatschnasse Haare. Irma schämte sich vor ihrer feinen Gesellschaft mit uns. Da wußte ich, warum Mama nicht öfter dahin ist.

Irma war die älteste und bekam immer neue Kleider, die wir der Reihe nach auftragen mussten. "Arme Erna". Mama war stolz auf ihre "Älteste". Irma war gesellig und unternehmungslustig, wenn sie uns besuchte war fast die ganze Schulklasse bei uns. Da wurden Wanderungen gemacht und man konnte die jungen Leute von weit her singen, lachen und scherzen hören. Erna und ich durften daran nicht teilnehmen, wir waren viel zu klein und "Grünschnäbel", wie Irma das nannte. Wie kann sie verstehen, daß wir immer selig waren, wenn sie wieder in Albota war.

Aber als der Tag kam und wir fort sind, war Irma in Albota und mußte mit ihren Leuten gehen, da hat Mama sehr geweint um ihr schönes Kind. Wir haben uns aber in Deutschland bald wiedergefunden. Irma war in einem Lager am Starnberger See und kam zu uns nach 14Heiligen. Da sie aber zum Arbeitsdienst eingeteilt war, mußte sie in eine Gaststätte nach Neuen See bei Lichtenfels zu einer Familie Enders. Da hat Irma Pierre kennengelernt. Er war französischer Kriegsgefangener und mußte die schwere Arbeit in der Gaststätte machen.

Ich glaube Pierre war Irmas erste große Liebe, denn die Gastwirtin hat die Sache durchschaut und ist durchgedreht, wollte Irma anzeigen. Es war ja auch strengstens verboten, daß deutsche Mädchen sich mit Gefangenen einließen, ein Unding!

Es war im Sommer 1941. Ich hatte Schulferien und sollte zwei Wochen das Kind der Gastwirtin hüten, ein kleiner eineinhalbjäriger Junge. Habe mit Irma in einem Zimmer gewohnt. Die Tage dort waren schön, es gab immer genug zu essen (es war doch Krieg) und mir hat es Freude gemacht mit dem Kind zu spielen, es auszufahren und zu füttern.

Da merkte ich zum ersten Mal wie sich zwei Frauen hassen, wenn es um den gleichen Mann geht, denn Frau Enders – ihr Mann war im Krieg – war ebenso in den Franzosen verliebt wie Irma. So schön hat es wohl selten ein Gefangener gehabt wie Pierre, denn er hat sich von beiden verwöhnen lassen und sich über die Kämpfe der Frauen köstlich amüsiert.

Es war peinlich, wenn sich Irma und Frau Enders balgten. Da flogen die Fetzen, sie haben gerungen, sich an der Haaren gezogen, Ohrringe rausgerissen. Pierre stand in seiner zerlumpten Stallkleidung da und schüttelt den Kopf und sagte: "isch elfe euch nischt, kämpft nur, für misch ist Krieg zu Ende."

Sehr geärgert hat er sich, weil beide Frauen seinen Namen falsch ausgesprochen haben. "Isch eise Pier, nicht Pirre", aber die haben nichts kapiert, waren blind und taub vor Eifersucht. Ich bin nach 14 Tagen wieder zurück nach Vierzehnheiligen und habe lange an dieses Erlebnis denken müssen. Wenn das so ist, werde ich mich wohl nie verlieben, denn wegen einem Mann solchen Tanz zu machen, ist nicht mein Ding ("dachte ich") - . - . - . - .

Wie es in Neuen See weiterging konnte man sich denken, aber es wurde im Herbst abrupt beendet. Irma hat vor der Sache mit Pierre an Gauleiter Wächtler geschrieben und ihn um Ausreise in den Osten gebeten. "Mama wäre nicht fähig eine Landwirtschaft mit ihren Mädels zu führen" und darum sind wir in Vierzehnheiligen geblieben hat Wächtler entschieden. Mama hatte dort eine Stelle in der Gaststätte Schmidt direkt vor der Basilika. Es war so schön dort. Erna und ich gingen zur Schule nach Grundfeld, hatten schon unsere Freundinnen und uns gut eingelebt. Mama und Irma hatten Sehnsucht nach den Leuten aus der Heimat, die im Sommer 1941 Richtung Osten gebracht wurden.

Irmas Wunsch wurde erfüllt, die Genehmigung kam als Irma schon gar nicht mehr daran gedacht hat und lieber bei Pierre geblieben wäre. Ich habe es ihr angemerkt, sie hat selten geweint, aber da flossen die Tränen.

Auf der ganzen Reise nach Litzmannstadt war Irma in Trauer und nicht ansprechbar. Mama wußte nicht warum dieser Sinneswandel, gerade sie wollte doch unbedingt zu den anderen in den Osten. Wie konnte Mama es verstehen, sie hatte von nichts eine Ahnung. Ich habe ihr nichts davon erzählt, auch Erna nicht, sie hätten es beide nicht verstanden, aber ich fing langsam an es zu begreifen und Irma tat mir sehr leid.

In Litzmannstadt haben uns viele Verwandte und Bekannte in Emfpang genommen so daß Mama und Irma kaum zu Hause waren. Erna und ich sind allein durch die Wälder, haben Holz gesammelt um unsere kleine Bude warm zu kriegen. Es waren alles Holzhbäuser, eine größere Siedlung im Wald. Jede Famile hatte ein Zimmer. Wir haben es uns gemütlich gemacht – wenigstens warm. Hunger hatten wir ständig.

Einmal hat uns Tante Lena zum Essen eingeladen. Ihre Familie war schon einige Wochen in diesem Lager, die wussten, wo man etwas organisieren konnte, haben uns einige Tips gegeben. Das Essen bestand aus drei Pellkartoffeln und ein kleines Stückchen Margarine. Selten hat es mir so geschmeckt.

Irma war wieder etwas aufgetaut. Wenn sie Piere auh so schnell nicht vergessen konnte, ist sie doch ins Kino nach Litzmannstadt und zum Tanzen. Es wurde wieder gelacht. Es wurden täglich junge Männer vom Lager geholt und mußten zur Wehrmacht.

Nach Weihnachten fing die Ansiedlung an. Jeden Tag wurden Familien mit Militärlastwagen abtransportiert. Wir waren im Januar 1942 dran. Es wurden Dörfer in Westpreußen extra für uns freigemacht. Die Leute die vorher in den Gehöften wohnten, mussten ins Reich in Munitionsfabriken arbeiten.

Westpreußen und Ostpreußen war die Kornkammer Deutschlands und Hitler meinte, kein Volk könnte diesen Boden besser bearbeiten als die Umsiedler aus Bessarabien. Wir kamen nach Polchau, Kreis Neustadt in Westpreußen. In unser Dorf kamen auch Fam. Schwabe, Fam Helbert,/Weber, Fam. Zarbock, Fam. Bauer und noch einige, die wir nicht kannten.

Es war ein sehr kalter Winter und wir hatten nicht die richtige Kleidung, haben uns aus Wolljacken Mäntel und Jacken nähen lassen. Im Haus war es auch eisig kalt und im Keller konnte man Schlittschuhe laufen, denn er war voll Wasser und zugefroren.

Im Stall standen zwei Milchkühe und zwei etwas einjährige Rinder, vier Schweine, ein Pferd, sechs Schafe und etliche Hühner. Wir hatten auch eine Magd und einen polnischen Knecht. Im Nebenhaus, was auch zu uns gehörte, wohnten Kaschuben, sprachen gut deutsch und hießen Sonnberg mit Nachnamen.

Herr Sonnberg mußte auch zum Militär. Seine Frau Anna hat uns bei der Landwirtschaft geholfen. Mama fing mit Freude an zu arbeiten, aber wie schon in Vierzehnheiligen bekam sie Blutungen und mußte ins Krankenhaus nach Putzig. Mama kam in die Wechseljahre und dazu die Sehnsucht nach der alten Heimat. Sie wurde schwermütig.

Auch Irma war gereizt und immer schlecht gelaunt. Erna und ich hatten Sehnsucht nach Vierzehnheiligen und so waren wir alle irgendwie sehr unglücklich. Die Kälte, das fremde Land und die anderen Menschen. Jeder hatte mit sich zu tun, es war Krieg, zu kaufen gab es auch nichts. Was wir zum Leben brauchten haben wir selbst angebaut.

Der Frühling kam, wir haben Getreide, Kartoffeln und Gemüse angebaut. Es gab Arbeit in Hülle und Fülle. Erna und ich mußten nach der Schule auch kräftig mithelfen.

Der Sommer verging und mit Irma mußte etwas nicht stimmen. Sie war in sich gekehrt und sehr traurig. Mama fing auch wieder an zu klagen. Sie war so tapfer, trotz Schmerzen hat sie die Ernte eingebracht. Ende August war sie wieder im Krankenhaus. Wir haben uns große Sorgen um sie gemacht und Irma kaum beachtet, weil sie sowieso immer schlecht gelaunt war und keiner hat gemerkt warum.

Der September kam. Am dritten, abends, schaute sie mich so komisch an und sagte: "Morgen wirst Du 13 Jahre". Wie lieb von ihr, wo sie doch nie an meinen Geburtstag gedacht hat. Ich will sie umarmen, sie wehrt sich fast, weil sie Zärtlichkeit nie gegeben hat wollte sie auch keine von uns empfangen. So hab ich es gedeutet. Wir hatten beide die Augen voll Wasser und schauten uns endlich einmal richtig an.

Oh Gott, da viel es wie Schuppen von meinen Augen, war ich den den ganzen Sommer blind vor Arbeit und Sehnsucht nach Vierzehnheiligen? Irma, sag doch was. Bitte, bitte sei mir nicht böse. Ich sehe es erst jetzt, glaube es mir. Da fing sie fürchterlich an zu weinen und stammelte etwas von: "Verzeihe Du mir, ich war immer so häßlich zu euch. Bitte, lauf schnell und hol Frau Magrian."

Ich rannte los, konnte es nicht fassen, wo hatte ich meine Augen all die Zeit. Frau Magrian war die Frau vom Bürgermeister und Krankenschwester und kam gleich mit. Die Nacht zum 4. September haben Erna und ich uns fest vorgenommen, immer lieb zu Irma zu sein. Wir hielten uns die Ohren zu, denn Irma hatte ihre große Stunde.

Endlich, die ganze Nacht war um und nebenan schrie etwas, so niedlich! – Gottseidank! Alles gut überstanden und Mama im Krankenhaus! Erna und ich sind so zärtlich zu Irma wie noch nie in unserem Leben. Wir übernehmen die Arbeit von Mama und Irma, der Knecht und die Magd machen die schwere Arbeit.

Es ist ein Mädchen und heißt Waltraut, ist so süß. Und das am 4. September 1942, meinem 13. Geburtstag. Ich werde Patentante mit 13 Jahren. Diese Freude! Mama kam auch nach Hause. Selbst Mama hat es Irma nicht angesehen, denn Irma trug immer lockere Kleider und war auch nicht so dick wie manch andere. Irma war ganz anders, strahlte und war endlich glücklich.

Warum, oh Gott warum? Das Kind wurde nur 14 Tage alt. Irma, arme Irma. Wir wußten nicht, wie wir sie trösten sollen, wir haben alle so sehr darunter gelitten! Die gesalbten Reden vom Pfarrer "Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen", da haben wir alle laut geschrien auf dem Friedhof "warum?, warum?". Unser Glück, unsere Freude war fort. Es kam wie erwartet, Irma verfuchte das Land und wollte schnellstens weg. Aber wohin?
© 2006 Stefan Germer