Gretel Raab

Erinnerungen eines Mädchens aus Bessarabien

Hochzeit in Sofiewka Juli 1940

Wir sind eingeladen und machen uns schön mit den Kleidern von Untersehers Mädchen. "Macht Euch nicht schmutzig", sagt Mama, während sie an ihrem fast zwanzigjährigen Hochzeitrock den Knopf in der Taille schließt. Er passt noch, Gottseidank. Sie ist schmal und klein wie ein zwölfjähriges Mädchen. Wir sind stolz auf unsere Mama. Sie wundert sich, warum der Rock so verknittert und nicht ganz sauber ist. Wie kann sie wissen, daß wir in ihrer Abwesenheit Verkleidung gespielt haben. Macht nichts, sie zieht sowieso eine Schürze darüber, denn sie muß beim Kochen helfen.

"Mama, was schenken wir?" fragt Erna. "Eine Flasche vom selbstgebrannten Schnaps. Aber den bekommen die jungen Leute erst, wenn alles vorbei ist, er soll doch nur für die zwei sein."

Wir machen uns auf den Weg ins Unterdorf und kommen an einem Strohschober vorbei. Mama tut sehr geheimnisoll, bleibt stehen. "Kinder, schaut mal, ob uns jemand beobachtet." Wir sehen nach allen Seiten, aber kein Mensch zu sehen, war ja früher Sonntagmorgen. Mama geht drei Schritte am Schober entlang, in Augenhöhe steckt sie die Flasche blitzschnell bis zu den Schultern in das Stroh. "So, die findet niemand."

Im Hof der Brautleute ist schon reger Betrieb. Frauen und Männer stellen Tische, Stühle und Herde heraus. Es ist ein schöner Sommertag, draußen wird gefeuert, gekocht und gefeiert. Die Frauen bereiten das Essen. Es gibt Hühnersuppe und Strudeln. Mit flinker Hand und scharfem Messer werden feine Nudeln geschnitten.

Wir können uns nicht satt sehen, wenn Mama mit einer Geschwindigkeit den Strudelteig über die Rückhand zieht, immer größer wird das Teigtuch und so dünn, daß man durchsehen kann. Hauchdünn und ohne Loch. Das geht alles so schnell, plötzlich läßt sie das große Stück zu einem langen Strang zusammenfallen und es bilden sich feine Falten. Nun werden etwa acht Zentimeter große Strudeln geschnitten und zum Fleisch in den Topf. Niemand konnte es so gut wie unsere Mama, ihre Strudeln waren weit und breit die besten.

Wir Kinder machen uns nützlich und schmücken die Tische mit Sträußchen aus Kamille und Pfefferminze. Plötzlich ruft jemand: "Sie kommen!". Man sieht das Brautpaar aus der Kirche kommen und als die Ersten schon bei uns waren, kamen die Letzten erst aus der Kirche. So eine große Menschenmenge haben wir selten auf einer Hochzeit gesehen. Das hätte sich auch nicht jeder leisten können. Die Eltern der Brautleute zählten zu den reichsten im Dorf. Auch unser Lehrer, Herr H., seine Frau und das Horstle waren eingeladen.

Wir bitten Frau H. das Kind auf unsere Decke zu setzen, aber sie gibt es nicht her, hält es die ganze Zeit auf dem Arm und meine kleine Schwester, noch nicht ganz sechs Jahre alt, meinte "ob uns Mama auch so lieb hatte, als wir klein waren?" Wie kann sie, wo sie doch immer arbeiten muß.

Inzwischen kamen aus allen Töpfen himmlische Düfte. Mama meinte, wir sollten noch etwas mit den anderen Kindern spielen, denn mit dem Essen dauert es noch. Zuerst bekommen die Großen. Wir vertreiben uns die Zeit. Mal sind wir in den Weinbergen, dann im Tal. Am Stohschober spielen wir Fangen und Verstecken.

Der Tag verging viel zu schnell. Die ersten gehen schon nach Hause, müssen das Vieh füttern und melken. Manche Frau muß ihren Mann stützen, denn der Wein war so gut und hat wieder mal nichts gekostet.

Mama ruft uns zum Aufbruch, aber erst müssen wir das Geschenk holen. Erna und ich rennen schon vor, jetzt kann ja jeder wissen, was wir da versteckt haben. Mama läuft leichtfüßig und zielgerade auf die Stelle zu und wird ganz blaß "Oh Gott, s'isch weg."

Diese Enttäuschung, wir wollten es nicht glauben. Ich mache noch mal drei Schritte und dann in Augenhöhe, denn ich bin fast so groß wie Mama, aber nichts da. So eine Blamage. Nun haben wir kein Geschenk. Wir stehen wie versteinert da, können es nicht fassen, wer hat Mama diesen Streich gespielt? Plötzlich schreit sie los: "Wenn ich raus bekomme wer das war, den bringe ich um." So böse haben wir Mama lange nicht erlebt. Sie schimpft und weint vor Zorn. Wir hätten den ganzen Tag am Strohschober herumgetobt, da hätten wir doch etwas merken müssen. "Haben wir aber nicht", traut sich Erna zu sagen. Ich nehme sie zur Seite und flüstere ihr ins Ohr: "kein Wort zuviel, sonst bekommen wir heute noch Schläge."

Zu Hause ging das Lamento weiter. Immer wieder sagt sie: "Wenn ich den erwisch, ich bring ihn um, ich schlag ihn t..

Die Kuh muß noch gemolken werden und wir müssen wie jeden Abend unseren Blechnapf mit dieser warmen Milch trinken. Erna streikt. "Heute habe ich weder Hunger noch Durst" und stellt ihren Napf für die Katze unter den Tisch, das hätte ihr fast Prügel eingebracht. Mama wird böse: "Die Milch wird getrunken, draußen tut sich ein Gewitter auf, morgen ist sie sauer, dann wollt ihr sie auch nicht mehr." Oh Mama, das Gewitter ist doch schon bei uns im Zimmer und alles wegen dem Geschenk. Schade, es war ein so schöner Tag!

Wir liegen in einem Bett, ich am Fußende. Muß immer wieder an den schönen Tag denken: ob ich auch mal eine so schöne Braut werde? Und an die Worte von Frau H. Sie lobte uns, wir hätten das mit den Sträußchen und dem Weinlaub sehr schön gemacht. Ob wir wüßten, was man alles aus Kamille machen kann? Zum Beispiel Tee, der sei gut gegen Bauchweh. Das hat mich sehr beeindruckt, denn wie oft habe ich es - endlich etwas für mich. Mein Bauchweh quält mich besonders in der Schule, wenn ich wieder mal gar zu dumm bin und in der Ecke auf Mais mit erhobenen Händen knien muß. Viel zu lange, so daß sich die Körner tief in die Haut drücken. Wer kann ermessen, wieviel Scham und Bauchweh das bringt?

Nun will ich aber schlafen, muß doch morgen früh aufstehen, denn zu spät zur Schule bringt wieder "Ecke knien". Aber ich komme nie zu spät, obwohl wir keine Uhr haben, man bekommt ein Gefühl für die Zeit. Erna schlummert schon selig. Mama wimmert noch im Halbschlaf: "Wenn ich den erwisch, ich sch.. ihn t.." Und ich träume von der Heilkraft der Kamille, die mich mein ganzes Leben begleitet hat.

Erinnerungen aus der Kindheit
Januar 1996

P.S.:
Sie hat ihn nicht erwischt, aber sollte er noch am Leben sein und diese Zeilen lesen, bitte MELDEN! Wir erledigen das für Mama.
© 2006 Stefan Germer