Gretel Raab

Erinnerungen eines Mädchens aus Bessarabien

Bessarabien

Wenn ich Berichte über Bessarabien gelesen haben, wurde nur Schönes von Friede und Freude geschrieben. Die großen Söhne und Töchter besuchten die Wernerschule oder waren sonstwo in höheren Bildungsstätten. Das Land war fruchtbar. Dank seiner schwarzen Erde brauchte man keinen Dünger. Ist der Sommer gut, war auch die Ernste reichlich. Nur, wer hat die Arbeit gemacht?

Von den armen Schluckern, die für einen Apfel und ein Ei, vielleicht noch eine warme Suppe gearbeitet haben, lese ich nichts. Sicher gibt es auch Berichte darüber. Ich würde mich freuen solche zu lesen.

Wenn ich an Bessarabien denke, sehe ich alles vor mir. Die große Armut der Nachbarn und in der eigenen Familie.

Wir wohnten in Sofiewka, im "Tal der Ahnungslosen". Die Reichen wohnten im großen Dorf. Am Anfung und Ende des Dorfes war ein Laden. Unser Haus war direkt an der Landstraße und gleich daneben der Teich, in dem an heißen Sommertagen Mensch und Tier gebadet hat.

Mama hatte sieben Kinder und einen kranken Mann. Nacheinander starben drei Kinder und der Mann. Das vierte Kind wurde von Onkel A. überfahren.

Um uns zu ernähren und das angefangene Haus fertig zu bauen mußte Mama viel arbeiten. Sie war von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bei reichen Leuten im Dorf. Meine vier Jahre jüngere Schwester Erna und ich haben bis in die Dämmerung auf Mama gewartet, denn wir hatten Hunger und Mama brachte Suppe mit. Manchmal ist es so spät geworden, daß Hund und Katze mit uns eingeschlafen sind. Vor Müdigkeit brauchten wir kein Essen mehr.

Im Winter war Mama meistens zu Hause, worüber Erna und ich sehr froh waren. Wir hatten unsere Mama ganz für uns und das Mittagessen war immer auf dem Tisch wenn ich aus der Schule kam.

Mama hat bis in die tiefe Nacht Strümpfe und Handschuhe für die Dorfleute gestrickt. Wenn man bedenkt, bei welcher Beleuchtung. Eine Petroleumlampe hing am Kopfende von Mamas Bett.

Wir hatten keine Uhr und ich bin doch immer pünktlich zur Schule gekommen. Man bekommt ein Gefühl für die Zeit!

In der Schule hat es mir gefallen, habe zu Hause mit meiner kleinen Schwester weiter Schule gespielt, denn Spielsachen hatten wir nicht. Weihnachten hat uns Mama eine Puppe aus Wolle gestrickt und ausgestopft. Bälle wurden aus Wollknäuel gemacht und bunt umhäkelt.

Nun nochmal zur Schule:
Einmal mußte ich in der Schule in der Ecke auf Maiskörnern mit erhobenen Händen knien. Wie lange weiß ich nicht, aber ich mußte danach die Maiskörner an meinen Knien einzeln abmachen, so tief hatten sie sich in die Haut gedrückt. Es war das letzte Schuljahr in Bessarabien. Wir hatten einen neuen Russischlehrer und sollten am nächsten Tag 10 kleine Holzstöckchen zum Rechnen mitbringen. Ich hatte sie vergessen. Die Strafe war hart, aber ich habe nie mehr etwas vergessen.

Die Lehrer waren sehr streng. Ich denke noch mit Schrecken an die neue Tafel. Sie war sehr groß und konnte gedreht werden. Die größte Strafe war, wenn jemand den Kopf darin eingeklemmt und mit dem Rohrstock etliche Hiebe auf den Hosenboden bekam. Gott sei Dank wurde dies nicht mit Mädchen gemacht.

Wenn ich heute daran denke, fällt mir auf, wie sehr Kinder von den Launen der Erwachsenen abhängig waren. Es wurde gleich zugeschlagen. Ich frage mich immer wieder wieso, wo sie doch alle so fromm waren. Aber ihre Devise war sicher "Zucht und Ordnung".

Wenn ich an heißen Sonntagen durch das Dorf geschlendert und meine Freundinnen Lore und Wilma besuchte, hörte man fast aus jedem Haus Gemurmel und Gebete. Zum Beispiel "Der Herr ist mein Hirte, mir wird an nichts mangeln". Es war Frau S., die so fromm und gläubig war und so inbrünstig beten konnte. Als ich einmal in großer Not dringend einen Bleistift für die Schule brauchte - meiner war vom vielen Spitzen so klein geworden - sagte Mama: "geh auf dem Schulweg bei Frau S. vorbei. Sie soll die einen leihen und nachmittags kaufst einen und bringst ihn zurück." Ich hatte Pech, Frau S. gab mir keinen. In meiner Not bin ich zu Dora, einer jungen Frau. Die wohnte neben Frau S. Dora gab mir einen Stift und sagte sogar: "kannst ihn behalten". Danke, liebe Dora. Obwohl Dora nicht gebetet und auch nicht in die Kirche ging, war sie für mich die beste Frau im Dorf.

Der zweitbeste Mensch im Dorf war der Kaufmann am unteren Ende des Dorfes. Als Mama Strudeln kochen und kein Salz mehr hatte, bin ich voller Freude auf die Strudeln mit zwei Eiern zu ihm gerannt, gefallen und die Eier angebrochen und doch das Salz dafür bekommen. Vielleicht war es auch das Wasser in meinen Augen.

Jedenfalls ist es in Bessarabien wie überall. Es gab gute und weniger Gute. Man kann ja auch niemand in die Seele schauen, um zu erfahren warum er so ist wie er ist, der Mensch.

Das Wetter war extrem in diesem Land. Im Sommer hat es manchmal monatelang nicht geregnet. Das war schlimm für die Ernte. Wenn man da keine Vorräte vom vorigen Jahr hatte, wie Mais oder Weizen, war Hunger angesagt. Aber Mama hat uns eigentlich immer satt bekommen. Im Herbst die wunderschönen Trauben. Wir hatten einen Weinberg, nicht groß, aber doch soviel, daß wir den ganzen Winter Trauben hatten, auch Saft und Wein.

Erna und ich mußten tagelang (so es die Schule erlaubte, denn wir haben immer viel Hausaufgaben machen müssen) mit dicken Garn die Trauben auf dem Boden an eine lange Leine binden. Mama hatte die Leinen gezogen und wir mußten jede einzelne Traube anbinden. So wurden Rosinen daraus. Von Zeit zu Zeit mußte nachgesehen werden, ob keine faulen Beeren an den Trauben sind, die mußten abgezupft werden. Im Winter haben wir viel Schafskäse und Trauben als Abendessen.

Der Winter:
Es hat sehr viel geschneit. Manchmal konnten wir nicht zur Haustüre raus und auch nicht durch die Fenster sehen, so hatte sich der Schnee ums Haus gelegt. Mama hat jeden Abend die Schaufel ins Haus, damit wir uns am nächsten Morgen eine Öffnung machen konnten. Wenn der Frühling kam, gab es starke Überschwemmung.

Wir hatten einen großen Garten. Alle Leute hatten gleichgroße Gehöfte, dies war wohl bei der Ansiedlung berücksichtigt worden. Vorne der Hof und Haus mit Ställen, dann leicht ansteigend der Garten. Maulbeerbäume, Aprikosen, Kirschen, Susinen helle und dunkle und viele Nußbäume.

Im Dorf waren rechts und links die Häuserzeilen. Dazwischen ein Bach und auf beiden Seiten längs des Baches Nußbäume und die Straße. Wenn ich vom Dorf schreibe, meine ich das Hauptdorf, denn wir wohnten über dem Berg im Tal, es wurde auch nur das Tal genannt. Mein Schulweg ging über den Hügel durch Onkels Garten und dann die Straße hoch.

Neben der Schule war auch die Kirche und daneben wohnten Schwabes. Wilma und Lore sind in meiner Klasse gewesen. Ich habe gerne mit ihnen meine knappe Freizeit verbracht. An einem langweiligen Sonntag war ich bei ihnen, es hat geregnet und wir spielten im Stall Verstecken und Nachlauf. Da ist Wilma in eine Mistgabel gerannt, daß der Zinken oben am Fuß rausgestanden hat. O Gott haben wir um Hilfe geschrien, alles war wiedermal in der Kirche, aber es war Sommer. Überall, auch in der Kirche waren die Fenster offen und man hat uns bis in die Kirche schreien hören. Da kamen die Eltern von Wilma und Lore. Der Vater nahm den Stiel und zog die Gabel mit einem Ruck raus. Er sagte: "die Gabel hab ich schon lange gesucht". Die Mutter kam mit einer Schüssel Essigwasser, darin mußte Wilma ihren Fuß baden. Am nächsten Tag war sie wieder in der Schule, als ob nichts gewesen wäre. Nur ein Verband hat daran erinnert.

Wir blieben Freundinnen und wie es de Zufall wollte, sind wir im gleichen Ort in Westpreußen angesiedelt worden. Durch die Flucht 1945 haben wir uns verloren. Lore haben ich 1949 in Oberursel auf der Kerb plötzlich wiedergetroffen, aber dies gehört in einen anderen Absatz.

Noch ein Erlebnis: mein Kampf mit der Schlange. Es war 1939 wieder ein heißer Sommer und wir hatten Schulferien. Ich wollte ein paar Pfennige verdienen und Gänse hüten. Erna war traurig, aber sie hat es doch schon verstanden, daß wir Geld brauchten und so mußte sie mit dem Hund allein zu Hause bleiben. Habe mir ein Säckchen Brot mitgenommen. Damit es nicht in der Hitze vertocknet, habe ich das Säckchen in die Erde gebuddelt. Wegen Schlangengefahr konnte man sich nicht hinlegen, auch nicht setzen, ohne vorher die Lage genau inspiziert zu haben. Es war stinklangweilig, weit und breit kein Mensch, kein Haus und nur endlose Steppe und ein Tümpel, in dem die Gänse gebadet haben. Mama sagte gleich, wenn du es tust, mußt mindestens zwei Stöcke mitnehmen, falls ein Ganter verrückt spielt, oder sonst ein Tier.

Wie recht sie hatte. Ich hatte Hunger, will mein Brot holen, aber das hatte schon jemand. Eine Schlange macht sich gerade über das Säckchen her, aber ich fühlte mich stark, hatte doch zwei Stöcke und schlage auf die Schlange ein. Was dann geschah, kann man kaum wiedergeben: die Schlange macht einen Satz solang wie sie war, schlug sie über und um sich. Es war eine Radschlange, ich hab Angst bekommen und bin gerannt was ich konnte und die Schlange hinter mir her. Wie ein Rad hat sie sich fortbewegt, war schneller als ich, ich mußte im Zick-Zack rennen, aber mein Stock war stärker als sie. Ich habe immer um mich geschlagen, da muß ich sie am Kopf getroffen haben. Gottseidank! Sie war tot. Ich war fix und fertig, bin nach Hause gerannt. Obwohl ich wußte, daß ich für die ganze Zeit "Gänsehüten" nun keinen Lei bekomme.

Erna war glücklich und Mama hat es verstanden, aber die Leute, denen die Gänse gehörten meinten, ich sei unzuverlässig! Egal, Gänse wollte ich sowieso nicht mehr hüten.

Ich habe dann im Dorf auf einen zweijährigen Jungen aufgepasst, da konnte Erna mitgehen. Das Haus wurde zugeschlossen und Schura hat sowieso alles beschützt. Für den Tag "Kinderhüten" bekam ich einen Lei. Dafür bekam man im Laden vier Bonbons. Erna war fünf, aber sie hatte schon damals wunderbare Einfälle und sagte: "nur ein Lei für den ganzen Tag? Da können wir doch in den Stall gehen und von unseren Eiern Bonbons kaufen." Für ein Ei gab es auch vier Bonbons.

Erna konstatierte auffallend gut für ihr Alter. Wir haben sehr zusammengehalten. Wenn sie etwas hatte, mußte sie es unbedingt mit mir teilen, auch wenn ich mich dagegen gewehrt habe. Sie war erst zufrieden, wenn Sie teilen konnte. Mit Andacht hat sie zugehört wenn jemand gebetet hat. Sie war gottesfürchtig und sehr gläubig. Was ihr leider auch kein Glück gebracht hat. - Arme Erna! -
© 2006 Stefan Germer